AUS steht für vom Auf- und Untergang der Sterne und ist eines von drei literarischen Projekten, die sich derzeit in meinem Backlog befinden. Ich werde in unregelmäßigen Abständen neue Kapitel hochladen. Ich habe (noch) keinen Lektor. Rechnet mit Rechtschreibfehlern.
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Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: 1
- Kapitel 2: > Der Bauernhof im Wald <
AUS
vom Auf- und Untergang der Sterne
Copyright © Christopher Knörndel, Wiesbaden 2007-[date] – alle Rechte vorbehalten
Der Bauernhof im Wald
Zähneknirschend schrubbte der Junge auf dem Stiefel herum. Der Holzknauf der Bürste drückte sich schmerzhaft in seinen Handballen. Die inzwischen schief abstehenden Borsten stachen ihm in die Finger wann immer er den Griff verlor. Die Bürste hatte schon gut ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel. Genauso wie der Stiefel. Ein unerträglicher Geruch von Schweiß hatte sich im Leder festgesetzt. Ein Überbleibsel jahrelanger Feldarbeit. Und der Dreck weigerte sich vehement gegen das Lösen vom Leder. Von der verstopften und verdreckten Sole zu schweigen. Seit Stunden schrubbte er sich jetzt schon die Finger wund. Manchmal fragte er sich ob ihm die Stiefel extra so dreckig gegeben wurden. Ihm war schließlich alles zuzumuten. Dazu reichte schon ein Blick auf sein Kämmerchen.
Der Hocker auf dem der Junge saß knarrte. Ein grob von der Unterseite eingeschlagener Nagel drückte ihm ins Gesäß. Und aufs Gemüt. Selbst ordentliche Stühle waren zu schade für ihn. Angeblich war es Verschwendung, ihm überhaupt diesen Hocker zu geben. Und der Hocker selbst, ein Phänomen. Der unwiderlegbare Beweis dafür dass auch dreibeinige Gebilde wackeln können. Die Kreuzschmerzen die daraus resultierten waren noch der mildeste Effekt. Viel störender war die Tatsache, dass der Stuhl bei jeder schrubbenden Bewegung hin und her kippte. Und das machte auf dem morschen Dielenboden Geräusche. Krach. Und Krach jeder Art war ihm um diese Zeit untersagt.
Ein kalter Luftzug pfiff unaufhörlich über seinen Rücken. Die Dachbalken über ihm hatten teils Finger breite Risse. Sein Zimmer war direkt unter dem Dach der Scheune. Unter ihm befand sich das Lager. Logisch dass die Dielen zwischen seinem Zimmer und dem Heu wasserdicht waren. Das Dach über ihm aber nicht, sodass sein Zimmer bei Regen regelmäßig unter Wasser stand. Im Winter fror er erbärmlich, im Sommer schwitzte er sich die Seele aus dem Leib, oder dem was noch davon übrig war. Und zu Herbst und Frühling, also Ernte- und Saatzeit auf dem Hof, hatte er ohnehin nicht genug Zeit um sich Gedanken über so etwas zu machen. Sein Fenster zeigte auf den Hof vom Bauernhof. Der Fensterladen war vor zwei Jahren endgültig abgebrochen. Wenigstens hatte er so etwas vom schalen Mondlicht das seinen Raum im Moment erhellte.
Kerzen, ein Bett, Schuhe, ein Stuhl. Alles zählte zur Kategorie ‚Verschwendung‘. Der Bauer betrachtete alles was an den Jungen ging als verschwendet. Er gehörte nun mal nicht dazu. Nicht zur Familie. Er war Waise. Und von daher nichts wert. Nur gerade genug um Tonnen an Arbeit zu leisten.
„Mist.“ Der Junge zog den kümmerlichen Fetzen Kleidung fester um seine Schultern. Die Nächte wurden wieder kälter. Der alljährlich sturmlose Herbst war fast zu Ende, die Spuren ließen sich immer noch an seinem Körper finden. Es würde einen guten Teil der winterlichen Sturmzeit dauern bis die Narben vollends verheilt waren. Falls keine neuen dazu kamen. Aber das war unwahrscheinlich. Wünschenswert, aber unwahrscheinlich. Hemd und Hose bedeckten beide gerade mal gut ein Drittel der Arme und Beine und das wichtigste was es sonst zu verdecken gab. Ihn ganz nackt herumlaufen zu lassen ging dann wohl doch gegen deren Schamgefühl. Zum Glück.
Grummelnd legte er die Bürste aus der Hand, streckte Finger und Arme durch und begutachtete dann den Stiefel. Er war sauber. Zumindest so weit dass man von sauber reden konnte. Von dem Gestank konnte einem schlecht werden. Vor vielen Jahren hatte er sich deswegen übergeben müssen. Hätte er es besser gelassen. Danach konnte er drei Tage lang nicht richtig sitzen. Das war vor neun Jahren. Heute war er neunzehn. Geschätzt. Niemand wusste wirklich, wie alt er war. Er war Vollwaise, aufgelesen als Säugling im Wald vor knapp zwei Jahrzehnten. Über die Jahre seiner Kindheit hatte sich nicht viel verändert. Weder am Stuhl, noch an der Bürste. Nur der Fensterladen hatte sich verabschiedet.
Von seinem Raum aus hatte er den wunderbarsten Blick auf das einzige andere nennenswerte Dach des Gutes, einen wunderbar langweiligen Blick auf das Bauernhaus und die Schuppen. Für den Moment waren seine Augen allerdings auf den zweiten Stiefel fixiert. Jeden Moment würde auf der anderen Seite des Hofes eine Tür knarren, eine der beiden Mägde herauskommen, über den Hof huschen und freundlich fragen, ob er inzwischen fertig war. Das war das bestmögliche Szenario. Das schlechtmöglichste bestand im Bauern selbst. Wenn er kam, bedeutete es eine weitere Nacht ohne Essen. Ab und an auch ohne Schlaf, je nachdem wie viel Arbeit sich zu dieser Zeit noch finden ließ.
Er betrachtete den zweiten Stiefel. Wie dreckig konnte Leder eigentlich werden bis man es nicht mehr Leder nannte? Er drückte die Bürste wieder in seine Hand, nahm den Stiefel, welcher ebenso derb stank wie der erste und begann zu schrubben. ‚Auf den Dreck einhieben‘ beschrieb es vielleicht besser, aber der Bauer bestand ja darauf er möge die Stiefel ‚schrubben‘. Wasser war kostbar, also musste er mit Luft schrubben. Die ersten paar Zentimeter waren immer die einfachsten. Der trockene, spröde Dreck ließ sich leicht abschaben und gesellte sich nur zu gerne zum Rest auf dem kleinen Häufchen, das sich indes neben dem Hocker gebildet hatte.
Dieses Häufchen reichte ihm inzwischen bis an die Knöchel. Die Überreste des Drecks, der bis vor ein paar Stunden noch an drei paar Stiefeln klebte. Drei ein halb Paar. Die zweite Hälfte des vierten Paars bearbeitete er gerade.
Die Tür des Hauses gegenüber öffnete sich. Jetzt kam es drauf an, Magd oder Bauer. Der Junge reckte seinen Hals, um das erste Mal am Abend den Mond zu betrachten. Wie so oft legte sich ein leichtes, nervendes Ziehen auf seine Schläfen. Der helle, silbrig glänzende Vollmond machte die Menschen schlaflos. Und den Bauern ungenießbarer.
Knarren. Das Scheunentor wurde zur Seite gestoßen, jemand polterte mit schweren Schritten die Treppe zum Dachboden hinauf.
„Gido!“ Klopfen an der Tür. „Mach auf du Viehstück.“ Der Bauer. Die Mägde hatten wenigstens Mitleid mit ihm. Wie die lange verstorbene Frau des Bauern, die ihn groß gezogen hatte. Er konnte sich nie wirklich entscheiden was schlimmer war. Das Mitleid der Mägde, oder die Gehässigkeit des Bauern. Er sollte sich froh schätzen überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben, rief er sich zurück ins Bewusstsein, das war das Mindeste, wenn sie ihn schon nicht gehen ließen. So billige Arbeit war schwer zu finden.
Er hatte mehr als einmal versucht zu fliehen. Seine Optionen waren nicht besonders prickelnd. Im Süden scheinbar endloser, wilder Wald der sich ebenso unwirtliche Berge hochschob. Kein Ort um ohne Werkzeug lange überleben zu können. Wölfe gehörten zu den angenehmeren Überraschungen, wenn man sich zu weit vom Hof entfernte. Im Norden erstreckte sich hinter einer halben Wegstunde dünnem Wald, der den Hof einschloss, das Farmland. Endlose, goldene Felder. Er hatte sie einmal kurz gesehen, bevor ihn der Vorarbeiter und seine Gehilfen wieder eingefangen hatten. So billige Arbeit wurde ziemlich teuer bewacht. Das mochte daran liegen, dass sie sich so hervorragend zum Abreagieren eignete.
Noch stärkeres Klopfen. Die Tür zum Dachboden der Scheune war stabil. Das Heu durfte nicht nass werden. Wehmütig schob Gido mit seinem Fuß den Riegel zur Seite. Der nächste Stoß des Bauern ließ die Tür auf- und gleich daneben auf den Boden klappen. Ein vor Wut erröteter Kopf streckte sich aus dem nun im Raum klaffenden Loch.
„Stiefel?“ Das höchste Maß an Kommunikation das der Bauer außerhalb von Beschimpfungen mit ihm führte. Worte mit fragender Betonung und Worte mit befehlender Betonung. Das Beschimpfen schien zu viel Kreativität zu verschlingen als dass noch etwas für normale Konversation übrig blieb. Gido deutete mit dem Kopf auf den Haufen sauberer Stiefel in der Ecke, dann auf den eben fertig geschrubbten Stiefel in der anderen Ecke und schließlich auf den Stiefel in seiner Hand.
„Immer noch nicht fertig? Stunden, verdammte Stunden hatte er Zeit und noch nicht fertig!“ Wie im Rausch stieg der Bauer durch die Luke, um dem Jungen einen der Stiefel ins Kreuz zu schleudern.
„Da! Das hast du davon!“ Gido biss die Zähne zusammen als der zweite Stiefel nur knapp seine Nieren verfehlte. Der dritte ging wieder ins Kreuz, diesmal tiefer, um Haaresbreite an ein paar Rippen vorbei. Das Knacken war nicht zu überhören.
Der Junge schwieg. Eine halbe Ewigkeit nachdem der Bauer mit den Stiefeln verschwunden war, sackte er endlich in sich zusammen. Er beließ es bei einem einzelnen, ausgedehnten, schmerzhaften Zischen. Die Schmerzen wurden mit genügend Übung erträglich. Der kalte Wind, der durch das Zimmer und über die Schrammen zog, stellte einen schwachen Trost dar. Seine Rippen würden am nächsten Tag verheilt sein. Eine ironische Eigenart. Seine Wunden verheilten schnell, fast unnatürlich schnell, nur damit man ihm mehr zufügen konnte.
Direkt neben ihm wartete noch ein Haufen Mist und Dreck darauf in eine der Ecken gekehrt zu werden. Gido drehte sich mit dem Gesicht zum Haufen, wobei sein Rücken nochmals gefährlich knackte. Mit dem Dreck in der Mitte des Raums würde er am nächsten Morgen nie aus der Scheune gelassen. Und wenn, dann nur unter der Auflage mindestens das Dreifache an Arbeit zu leisten.
Beim Aufstehen konnte er ein Zusammenzucken nicht unterdrücken. Sein Fuß kribbelte, eine Mischung aus Taubheit und stechendem Schmerz. Endlich wieder auf zwei Beinen biss er die Zähne zusammen und bewegte den Dreck mit der viel zu kleinen Bürste in eine der Ecken. Das Kribbeln hatte sich auf sein gesamtes Bein und einen Teil des Beckens ausgebreitet als er endlich die letzte Hand voll vom Boden auf kratzte und ohne Elan in die Ecke verfrachtete. Stöhnend ließ er sich auf seinem provisorischen Strohbett nieder und zog seine Decke, einen ausrangierten Leinensack, über seinen Körper und schloss die Augen.
Er fror nicht wirklich.
Beim nächsten Augenaufschlag war sein Raum wieder hell erleuchtet. Er hatte wie immer nicht gemerkt wann er eingeschlafen war. Jetzt war er wieder wach und erholt soweit man bei der Kälte davon sprechen konnte. Er richtete sich verwundert auf. Die Sonne war bereits aufgegangen. Er horchte auf. Niemand hatte ihn mit mehr oder weniger angenehmem Rufen geweckt. Stumm erhob er sich, sein Rücken fühlte sich schon bedeutend besser an, und schlenderte zum Fenster.
Die warmen Strahlen der herbstlichen Sonne stachen ihm in die Augen. Der Hof war in heller Aufruhr. Er beobachtete die Mägde, Landarbeiter und den Bauern dabei, wie sie alles Wertvolle versteckten und die neuen Werkzeuge durch alte austauschten. Gido kratzte sich am Kopf. Heute musste einer der wenigen ‚anderen‘ Tage sein. Die Steuer war fällig. Der Tag war leicht zu erkennen, da er im Gegensatz zu allen anderen kaum Routine beinhaltete. Die Rechnung dazu war einfach und jedes Jahr zu dieser Zeit dieselbe. Für den Grund und den Ertrag musste eine Steuer entrichtet werden und damit der Bauer nicht mehr als nötig zahlen musste, stellte er sich schlechter da als es ihm eigentlich ging. Für Gido hatte das einen angenehmen Nebeneffekt; er durfte sich für diese Zeit nicht auf dem Gut blicken lassen, damit keine Fragen über seine Herkunft und eventuell zu entrichtende zusätzliche Steuern aufkamen.
Seine noch müden Muskeln und Knochen streckend warf Gido einen prüfenden Blick zum Bauern hinüber, der ihm mit einer rüden Geste zu verstehen gab, er möge verschwinden. Die Sonne stand knapp über den Baumwipfeln. Es würde nicht mehr lange dauern bis zum Eintreffen der Geld-Eintreiber.
Prüfend drehte und wendete er seinen Rücken, die Stiefel-Attacke noch nicht verdrängt. Die Wunden waren besser verheilt als er erwartet hatte. Abgesehen von ein paar Schrammen war nichts zurückgeblieben. Auch seine Rippen knackten nicht mehr. Der Tag konnte kommen. Für den Moment fühlte er sich dreckig. Zeit genug zum Waschen hatte er ja diesen Tag.
Er wendete sich vom Fenster ab und verließ sein Zimmer über die Treppe. Im Scheunentor verharrte er für einen Moment, um die herbstlich gefärbten Bäume, die den gesamten Hof in einiger Distanz in einem rot-goldenen Schleier umgaben, zu betrachten. Ein bitterkalter Windzug erinnerte ihn daran, dass er sich schnell vom Fleck bewegen musste. Jeden Moment konnten die Steuerbeamten eintreffen und wenn er entdeckt würde, wären die Stiefel des Bauern in seinem Rücken sein kleinstes Problem. Vor drei Jahren bestand die Strafe dafür, sich noch auf dem Hof herum zu treiben während die Steuereintreiber anwesend waren in unzähligen Hieben. Sehr zur falschen Freude des Bauern konnte Gido am nächsten Tag allerdings schon wieder stehen und normal der Arbeit nachgehen.
Hastig ging er mit großen Schritten um die Scheune herum und das letzte Stück ausgetretenen Pfad entlang in den Wald. Schon nach wenigen Metern zeigte der vom Blattwerk wundersam golden schimmernde Wald sein wahres Gesicht. Die meisten Äste waren mit Dornen versehen und das, was an Blättern noch da war, verdeckte die Sicht auf alles was hinter oder vor einer Person vorging.
Das kaum vernehmbare Plätschern von Wasser kündigte den Bach schon an, bevor man ihn überhaupt im Dickicht erahnen konnte. Genauso winzig wie das Plätschern war auch die Lichtung, die sich um den winzigen Bach gebildet hatte und auf welcher Gido inne hielt.
Über das Wasser gebeugt starrte ihm ein ausgemergelter, hagerer Junge von nicht ganz neunzehn Jahren, dunkelbraunem, ungepflegtem, Schulter langem Haar und grauen, ausdruckslosen Augen entgegen. Das Gesicht war seit dem letzten Tropfen Wasser den es abbekommen hatte von Dreck verschmiert, der teils verkrustet von selbst ab fiel, teils aber auch so hartnäckig an ihm klebte dass er bezweifelte, ob Wasser wirklich helfen konnte. Direkt neben ihm im Spiegelbild wippten die braunen und roten Blätter der Bäume. Dahinter ein grauer Ausschnitt der wohl einzigen Wolke am gesamten Himmel.
Bedächtig ließ er seine Hände in das kalte Wasser sinken. Stromabwärts verfärbte sich der Bach in ein leichtes Braun, wusch die Überreste von Dreck und Blut von seinen Händen. Kniend versenkte er Zentimeter für Zentimeter seiner Arme und schrubbte sich den Dreck von der Haut.
Zufrieden mit den seit langer Zeit wieder einmal sauberen Armen, setzte er sich aufrecht in das Rinnsal und entfernte den Rest des Drecks von seinem Körper, nur um spröde, ausgetrocknete Haut zu entblößen. Seine Haare wurden vom Wasser hin und her geschwemmt, entledigten sich vom Schmutz der letzten Arbeitsstunden und klebten ihm schließlich feucht an Kopf und Schultern. Er würde sich bei dieser kalten Brise einen Schnupfen holen. Das hatte ihm irgendwann einmal eine Magd prophezeit. Eingetroffen war es nie. Es blieb meist bei einem einzigen halbherzigen, absichtlichen Niesen um sie nicht zu beunruhigen.
Dem kalten Wind und dem Frösteln trotzend, zog er sich sein zerfetztes Oberteil über den Kopf und tunkte es in den Bach, zog es wieder heraus und geradewegs über seinen Kopf und Brustkorb. Endlich frisch gewaschen, aber immer noch klatschnass, musste ein Platz zum Trocknen gefunden werden. Wesentlich leichtfüßiger – wie viel Schmutz hatte noch gleich an ihm geklebt? – kehrte er der kleinen Lichtung den Rücken und folgte dem Bachlauf.
Nach ein paar herzlosen Minuten Fußmarsch lichteten sich vor ihm die Bäume und Äste. Der Wald ging schlagartig in die unbestellten Felder über, so schlagartig, dass er für einen Moment glaubte, er müsse die Augen zusammen kneifen. Seit seiner Exkursion in den Wald hatte sich ein dünner, silbriger Nebelschleier über den Hof gelegt, der gerade dicht genug war, dass er die gegenüberliegende Waldgrenze nicht mehr erkennen konnte. Die Sonne verblieb als gedämpfter, silbrig glänzender Ball niedrig am Horizont.
Ein, zwei Schritte aus dem Wald, dann nochmal drei ins Feld, bis er sich im Schatten eines Erdhügels niederlegte. Hier würde ihn niemand suchen, schon gar nicht bei Nebel. Er rümpfte die Nase. Die feuchte Luft war seinem Plan zu trocknen nicht gerade zuträglich. Starr hob er seine Hände gegen die weiß schimmernde Nebeldecke und betrachtete sie mindestens genauso starr.
Desinteressiert sah er dabei zu, wie die letzten Tröpfchen Wasser auf seiner Haut trockneten. Einen guten Teil dieses Feldes hatte er bei Regen umgegraben, einen weiteren in sengender Hitze. Stürme und Gewitter blieben in den beiden ruhigen Saat- und Erntezeiten im Jahr, der Kalm, zum Glück aus. Und in den Sturmzeiten im Sommer und Winter wurde üblicherweise keine Feldarbeit betrieben.
In der Ferne hörte er das ungeduldige Wiehern von Pferden. Die Steuereintreiber mussten bereits bei ihrer Arbeit sein. Dann würde der Bauer das erste und einzige Mal im Jahr freundlich sein. Oder zumindest freundlich tun. Wie schnell Menschen doch zu Schleimern werden konnten wenn es um Geld, Gegenstände von Wert oder beides ging. Die Eintreiber würden wie jedes Jahr den Hof inspizieren, die Anwohner zählen, das Werkzeug begutachten und dann anhand von klar definierten Rechnungen die Abgaben einfordern. Die Erinnerung daran wie er diese Details erfahren hatte gehörte zu den weniger ordinären. Die Beamten hatten einige Stunden zu früh vor dem Hoftor gestanden, sodass er hastig vom Scheunen-Dachboden ins Bauernhaus und dort in eine Abstellkammer gezwängt wurde, wo er natürlich alles mithören konnte.
Lehrreich an der ganzen Angelegenheit war das Verhalten des Bauern den Beamten gegenüber. Freundlich. Zuvorkommend. Falsch.
Seit diesem Tag war er froh darüber wie Dreck behandelt zu werden. Die Schleimer-Masche war wesentlich unerträglicher. So unerträglich dass die Steuermänner sicher nicht aus bloßem Mitleid ein Auge zudrückten. Eher weil sie so viel falsche Güte auf einmal nicht ertragen konnten. Zumindest nicht ohne Magenkrämpfe und allem was damit verbunden war. Es war so als er lauschen konnte. Und es war sicher auch dieses Mal wieder so. Schließlich ging es darum möglichst gut weg zu kommen.
Minuten und Stunden des Wartens zogen ins Land. Vom einzigen Schornstein des Hofs setzte sich dichter, grauer Rauch gegen den noch silbrig weißen Neben ab. Ein kräftiger Windstoß fegte unzählige Blätter von den Bäumen, über die Felder, spielte mit ihnen. Ließ sie steigen. Ließ sie fallen. Ließ sie sich drehen und wenden und schließlich irgendwo außer Sichtweite niedergehen nur um das Schauspiel von neuem beginnen zu lassen. Letzte Grasreste und Staub wurden vom Boden aufgehoben um daran Teil zu nehmen. Inmitten dieser Dynamik saß Gido und knabberte inzwischen an einer liegen gebliebenen Kartoffel. Steinhart vom Wetter, aber etwas essbares.
Er gähnte. Die Prozedur würde den ganzen Tag dauern. Mangels Beschäftigung war ein Nickerchen also eine gar nicht so weit her geholte Option. Einen letzten Bissen von der Kartoffel abbeißend schloss er seine Augen. In einer gleichmäßigen Bewegung sanken sein Arm und die Kartoffel zu Boden. Nicht mehr von einer Hand gehalten rollte sie ein Stück weit über den staubigen Boden bis sie neben dem ruhenden Menschen ebenfalls zur Ruhe kam.
*
Eine feuchte Haarsträhne klebte ihm im Gesicht. Haut und Kleidung waren immer noch – oder schon wieder? – durchnässt. Der Boden unter ihm hatte sich zu Matsch verformt und nachgegeben. Grunzend öffnete Gido die Augen, nur um fest zu stellen, dass das Wetter während seines Schlafs umgeschlagen hatte. Stumm setzte er sich senkrecht auf und blickte in eine dicke, graue Nebelsuppe die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, ihr Wasser möglichst effektiv über die Welt zu verteilen.
Ohne die Sonne am Himmel fehlte das Zeitgefühl, vor allem nach dem Nickerchen, also musste er nachsehen ob die unliebsamen Gäste bereits abgezogen waren oder nicht. Dabei entpuppte sich der ohnehin unliebsame Wald als noch düsterer und schmerzvoller. Zu den Stacheln und Dornen gesellten sich nun Eiseskälte und ein feuchter Wind. Der Boden war eine einzige Stolperfalle, Matsch durchzogen von losen und festen Wurzeln.
Er zögerte. Der Waldrand zum Hof hin war in greifbare Nähe gerückt. Aber noch konnte man nicht gerade viel erkennen. Er musste noch ein Stückchen näher ran. Vorsichtig pirschte er sich bis zum letzten Gestrüpp vor. Einen Schritt weiter und man würde ihn vom Hof aus erahnen können. Jeder verratende Blick auf ihn würde Fragen aufwerfen und diese Fragen nichts Gutes bedeuten. Als ob je etwas wirklich Gutes von diesem Hof gekommen wäre.
Vor den Häusern waren keine Pferde angebunden. Nach den Spuren der Rosse suchte er gar nicht erst. Die würden im Matsch ohnehin sofort verlaufen. An den von Kerzen im Innenraum erleuchteten Gardinen zeichneten sich nur verschwommen die Mägde ab die hektisch von Raum zu Raum wuselten. Vermutlich mit dreckiger Wäsche. Benutzten Pfannen. Gläsern. Schuhen. Bettzeug. Was auch immer sie den ganzen Tag hin und her trugen. Die Hundehütte war nach wie vor leer. Der letzte Hund war vor einem halben Jahr gestorben. Makabrer Weise gab es gleich am nächsten Tag Frischfleisch zu essen. Für ihn war es einfach nur Fleisch und wenn es von den Tölen war. Und? Natürlich weigerten sich nur die Mägde zu essen. Vielleicht aus Solidarität mit den nützlichen Haustieren.
Aus dem kleinen Hühnerstall gleich daneben stoben ab und an ein paar Federviecher. Selbst die Hühner waren dauerhaft nervös. Die Atmosphäre des Bauern hinderte sogar das gemeine Gras am Wachsen. Nur der resistente Löwenzahn traute sich an wenigen Stellen aus dem Boden. Sicher, es war immerhin Herbst. Aber wenn selbst Nadelbäume auf diesem, nur auf diesem Boden jeden Herbst die Nadeln abwarfen, dann lag es sicher nicht an gemeingültigen Dingen. Als wäre selbst das Land in eine tiefe Depression gesunken. Schlechte Aura gegen Unkraut. Weniger für ihn zu zupfen, wenn Unkraut jäten anstand.
Der Schweinestall wiederum daneben war komplett leer. Seine ehemaligen Insassen zierten inzwischen die Vorratskammer. Gepökelt. Stückchenweise.
Die einzigen auffälligen Geräusche drangen aus der Scheune. Zersplitterndes Holz im Wechsel mit Hammerschlägen. Überzeugt davon, dass sich keine Steuereintreiber mehr auf dem Gut befanden, stieg er ohne irgendeine Gefühlsregung aus dem Gebüsch.
Als er hinter der Scheune hervor trat konnte er gerade noch sehen wie sein Fenster, oder eher der letzte Schlitz, mit einem Holzbrett zugenagelt wurde. Holz splitterte im Takt. Durch die weit geöffnete Tür beobachtete Gido, wie nacheinander Teile seines Stuhls und Nahezu-Betts aus dem ersten Stock auf den Boden im Erdgeschoss krachten, gefolgt von ein paar Holzspänen die ungleich harmonischer hinunter rieselten, dann aber vom dritten Stuhlbein mitgerissen wurden und sich ins Stroh verteilten. Das Stuhlbein splitterte beim Aufprall noch weiter auf, quer durch den Raum, knapp an Gidos Schienbein und Unterarm vorbei.
Ungerührt stellte er sich unter die Luke. In seinem Besitz gab es schließlich nichts mehr dass man die Luke runter schmeißen konnte. Und die Stiefel würde sich der Bauer dazu sicher nicht ausziehen. Zu viel Aufwand. Dazu mussten sie schon wurfbereit irgendwo stehen. Die Hämmer und Nägel wurden benötigt um die Decke zu verstärken. Zumindest sah es von da unten ganz so aus. Drei Männer krachselten auf nicht wackelnden Bänken unter den Dachbalken umher und stopften und nagelten jedes Loch zu dass sich im Verlauf der letzten Jahre gebildet hatte.
Einer der Männer griff unter sich in den Nageleimer. Gido, der in direkter Sichtlinie zu Eimer und Mann stand, wurde vom Arbeiter nur kurz und neutral gemustert bevor er sich wieder an seinen Balken machte. Er wurde zum Arbeiten bezahlt. Zwischen zwei Hammerschlägen wandte sich der Mann Richtung Fenster. „Besuch.“ Lautete die knappe Information an den Bauer, fast übertönt von der Arbeit der letzten beiden Schreiner.
Ein Hammer wurde abgelegt, ein Holzbalken klappte geräuschvoll von der Wand auf den Boden. Nur einen Augenblick später erschien das rote, unnatürlich aufgedunsene Gesicht des Bauern in der Luke. Unterlaufene Augen und hervorgetretene Adern auf Stirn und Schläfe. Das Zusammentreffen mit den Steuereintreibern war offensichtlich ein Fehlschlag. Auf ganzer Linie.
„Verpiss dich.“ Rasselte er Gido zwischen zusammengebissenen Zähnen entgegen. Es schien ihn unendlich viel Kraft zu Kosten nicht auf ihn los zu gehen.
„Verpiss vom Hof dich hab ich gesagt!“ Wiederholte er ein wenig lauter und bissiger, sichtlich unzufrieden darüber, dass sich der Junge keinen Zentimeter von der Stelle bewegte.
„Hast du mich nicht verstanden? Zieh Leine! Lass dich nicht mehr Blicken!“ Wie versteinert beobachtete Gido teilnahmslos wie der Bauer, die Beherrschung verlierend, die Treppe herunter stürmte und zum Schlag ausholte.
„Verpiss dich Drecksvieh!“ Gidos Kopf bewegte sich getroffen ein paar Zentimeter zur Seite. Ruhig befand Gido den Schlag für den stärksten den der Bauer je ausgeteilt hatte. Während der Bauer keuchend nach Luft rang beobachtete Gido das beruhigende Tropfen des Blutes von seiner Braue. Wie es gleichmäßig, unverändert, nie schneller als zuvor auf den Boden tropfte. Wie sich das trockene Heu voll sog.
Er durfte den Hof verlassen.
Ruhig, fast apathisch, überhörte er die Ausbrüche des Bauern. Drehte sich um. Fing dabei einen Schlag in die Seite. Zuckte beim Treffen der Faust auf die Nieren kurz zusammen. Ging Schritt für Schritt Richtung Scheunentor. Trat barfuß in einen herunter gefallenen, halb verrosteten Nagel. Ignorierte die Aufforderungen, den Nagel gefälligst da zu lassen. Passierte das Scheunentor.
Gegenüber im Bauernhaus versuchten die Mägde sich nichts anmerken zu lassen. Was sie nicht daran hinderte mitleidige Blicke zu ihm zu werfen. Ihn förmlich damit auf zu spießen. Das Mitleid hatte ihm noch nie geholfen. Er sich davon nichts kaufen. Nicht dass er sich je etwas kaufen konnte. Er wusste nicht einmal wie Geld überhaupt aussah. Das sagenumwobene Geld. Der Stoff, aus dem Träume sein mussten. Der Stoff, der ihn endlich um seinen Wohnort gebracht hatte.
Er passierte das Bauernhaus ohne jegliche Regung. Links und rechts seines Wegs türmten sich abgedeckte Kartoffelberge auf. Die Früchte seiner Arbeit. Einer Arbeit die er nun nicht mehr hatte. Links und rechts seines Weges zierten akkurate Linien von umgegrabener Erde die Felder. Es gab keinen Lohn für die Arbeit. Der Lohn waren Unterkunft und Ketten. Hacken und Schaufeln lagen aufgetürmt am Wegesrand. Anderer Leute Arbeit hatte sein Fenster zugenagelt.
Er schritt zwischen all der getanen Arbeit entlang, ruhig, fast schon entspannt, mit einem Nagel im Fuß, als Niemand. Ein Niemand der inzwischen am Rand des Gutes angekommen war. Er sollte sich verpissen. Ein Schritt noch. Ein einziger Schritt. Weg von diesem Hof. Von diesen Menschen. Die ohnehin alle irgendwie gleich waren. Nicht schlecht, aber auch nicht gut. Menschen eben.
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- Kapitel 1: 1
- Kapitel 2: > Der Bauernhof im Wald <